Gesang und Orchester
Als 1994 die Internationale Bachakademie Stuttgart anlässlich des 50. Jahrestages des Endes des 2. Weltkrieges ein 'Requiem der Versöhnung' plante und Aufträge an Komponisten aus 14 unmittelbar am Krieg beteiligten Ländern vorsah, wurde ich eingeladen den österreichischen Beitrag zu leisten. Ich wählte damals die Teile 'Requiem', 'Kyrie' und 'Libera me'. Seither ist verschiedentlich der Wunsch an mich herangetragen worden, das Stück durch eine Komposition der übrigen Texte der Totenmesse zu komplettieren und ich habe auch schon während der Arbeit an diesem Satz Notizen gemacht. Zu einer Ausführung meiner Pläne kam es aber erst 2001 – 2003 im Zusammenhang mit einem Auftrag der Wiener Konzerthausgesellschaft.
Ich kenne die liturgischen Texte der Totenmesse seit meiner Jugend. Schon immer haben mich Stellen wie 'Libera me': Befreie mich, 'Salva me': Rette mich, 'Kyrie eleison': Herr, erbarme dich, gepackt und betroffen gemacht. Ich habe sie nicht als demütige Bitten empfunden, vielmehr als verzweifelte existenzielle Hilferufe der leidenden Kreatur, ja als Ausdruck von imperativen Forderungen. Während der Konzeption dieser und ähnlicher Stellen hat die Erinnerung Erlebnisse von Ängsten in den Geschehnissen des 2. Weltkriegs aus der Jugend in meine Tages- und Nachtträume heraufgeschwemmt.
Gegenstand der Requiemtexte ist die Auseinandersetzung mit der Begrenztheit unseres Lebens, mit dem Tod, der jeden trifft. Er ist in den Mythen und Religionen gesehen worden als die Schwelle zum Dunklen, - ins Nichts, ins Nirwana, in die Wiedergeburt, zum Gericht. Ich habe mich immer für die essentiellen Fragen aller Weltreligionen interessiert und habe Achtung vor allen religiösen Überzeugungen. Ein überzeugter Glaube wurde mir aber nie zuteil und so blieb mein Verhältnis zu einer übergeordneten Kraft immer ein ambivalentes. Ich wollte daher der christlichen Angst vor den Schrecken des Gerichts, der Hoffnung auf eine gerechte Beurteilung unseres irdischen Tuns und ein ewiges Leben die Trostlosigkeit der Wiederkehr des ewig Gleichen, die Vergeblichkeit all unseres Mühens und die Tragik des endgültigen Vergehens alles Irdischen gegenüberstellen. Ich habe dazu Totenbücher aus verschiedenen Kulturen und auch das Buch Koheleth aus dem Alten Testament, aus dem ich schon in den 70er Jahren einige Stellen vertont habe, in Erwägung gezogen und schließlich verworfen, als mir ein Zyklus von Gedichten, 'De profundis', in die Hände gefallen ist, den ich in einer persönlichen Krisensituation Ende der 50er Jahre verfasst habe. Ich stellte die acht Gedichte in einer Art Interlinearverfahren zwischen die neun Sätze der liturgischen Texte. Diese Texte sind ihrer Entstehung nach inhomogen; so entstammt der Beginn, das 'Requiem aeterna' einem im 16. Jahrhundert aus dem Kanon des Alten Testaments ausgeschiedenen 4. Buch Esra, während das 'Libera me' auf koptischen Ursprüngen beruht und das 'Dies irae' auf Grundlagen aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückgeht, die ihre endgültige Fassung in der Mitte des 13. Jahrhunderts erhalten haben.
Die von der Bischofskonferenz approbierte Neufassung des deutschen Texts aus der Zeit nach dem ersten Vatikanum (1869/70) wurde 1962/63 eingeleitet und ist jetzt für die Kirche rechtsgültig. Es mag anmaßend erscheinen, dass ich mich in der Arbeit dennoch nicht nur an ihr orientiert habe. Abgesehen davon dass ich die liturgischen Texte an einigen Stellen gekürzt habe, hatte ich bei der musikalischen Konzeption mit einer Schwierigkeit zu kämpfen: Der lückenhaften Erinnerung an meinen Lateinunterricht wegen musste ich zwar immer wieder zu der offiziellen deutschen Übersetzung greifen, in meinem Ringen um einen jeweils vollkommenen musikalischen Ausdruck fand ich sie aber nicht durchwegs befriedigend. Sie versucht etwa im 'Dies irae' die lateinischen Reime im Deutschen nachzuahmen und dabei kommt es einerseits zu einem 'Reimgeklingel' und andererseits – nicht nur der Reime wegen – zu einer freien, aber oft auch unscharfen und sogar verflachenden Übersetzung, die für mich im Gegensatz zur lapidaren, statuarischen Formulierung im Latein steht. Ich habe mich schließlich entschieden, für meinen eigenen Gebrauch selbst eine Übersetzung zu versuchen, in der ich auf den Reim verzichtet habe. Ich wollte möglichst wortgetreu sein und habe ausschließlich Bedeutungen verwendet, die die Worte in der klassischen lateinischen Literatur haben. Freilich habe ich nicht untersucht, inwieweit die Verwendungen von Worten in der Vulgata des 4. Jahrhunderts und im Dies irae, das ja zwischen der 2. Hälfte des 12. und der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden ist, von der klassischen Latinität abweicht. Aber diese Unsicherheit habe ich in Kauf genommen, zumal ich in der Komposition nur den lateinischen Text verwendet habe. Für die emotionale Seite meiner Musik waren aber die Ergebnisse meiner Übersetzung von wesentlicher Bedeutung, andererseits war es aber auch meine Musik zum lateinischen Text für die Übersetzung; es gab also eine Art Interdependenz. Hauptträger des Geschehens in den liturgischen Texten ist der Chor; nur gelegentlich treten darin die beiden Solostimmen in Erscheinung, (so z. B. im Benedictus der Mezzosopran). Das Lacrimosa ist a cappella gestaltet. Die Gedichte zwischen den liturgischen Texten sind fast ausschließlich den beiden Solostimmen vorbehalten. Ich habe viele Verfahren, die ich in meinem langen Leben entwickelt habe – oft ineinander verwoben - angewendet. Dazu gehören etwa reihentechnische – durchaus nicht immer zwölftönige – Vorgänge: So habe ich Im Agnus die die Reihe des Cantus firmus aus meinem letzten Orchesterstück Hymnus (2000) zitiert und in eigenständiger Weise behandelt und andernorts Reihen von Akkordfolgen wie schon im Netzwerk (1962/80) und späteren Stücken verwendet. Zeitproportionen finden sich u. a. in XI nach 'ne cadent in obscurum' (dass sie / die Seelen / nicht hinabstürzen in die Finsternis). Auch Klangflächenstrukturen, die ich in Fasce und Spiegel (1959-61) entwickelt habe, spielen eine Rolle. Einmal im Nachspiel von XI nach 'fac eas de morte transire in vitam' (lass sie vom Tode hinübergehen zum Leben) habe ich sogar auf die proportionale Notation der Spiegel zurückgegriffen. Obertonstrukturen, die in ganz anderer, beherrschender Form die Vorgänge im Hymnus bestimmen, kommen unter Verwendung von Vierteltönen in VII: 'Gere curam mei finis' (Führe mich sorgend an mein Ende) vor. Dem ganzen Stück immanent sind Intervallfolgen, die in ähnlicher Weise immer wieder durchscheinen. Das 'Libera me', im ersten Satz gekoppelt mit dem 'Requiem' und 'Kyrie', wird im letzten Satz, verbunden mit dem 'Lux aeterna', wiederholt, in einem kurzen Abschnitt sogar wörtlich. Die beiden Sätze bilden dadurch ein Art Rahmen um das Werk.
In der angedeutete Weise ist das Requiem also mein opus summum.
Friedrich Cerha