Zwei Solisten
Wenn ich meinen Weg in den 60er Jahren betrachte, so scheinen mir zwei Momente für meine weitere Entwicklung als wesentlich: Nach meiner ausgedehnten Arbeit mit Massenstrukturen, deren Möglichkeiten ich in meinen Mouvements, Fasce und Spiegeln extensiv erprobt habe und denen ich auch als Dirigent vielfach begegnet bin, hat mich eine große Sehnsucht nach klar durchhörbaren Verbindungen von Einzelelementen erfaßt, – nach bestimmten Intervallkombinationen und Ansätzen zu Melos, Harmonik und Rhythmus. Sie waren in der Gestaltung von Exercises von Beginn an für mich wichtig. Ein weiterer Aspekt entwickelte sich erst allmählich. Es war das Bedürfnis, aus der im Material sehr puristischen Welt meiner Klangkompositionen auszubrechen.
Exercises für Bariton, Sprecher und Kammerensemble wurden im wesentlichen 1962–67 geschrieben. Die ersten Wurzeln zu dem Werk fallen mit jenen zur Entstehung von «Spiegel l» zusammen, der nicht der Ausgangspunkt für die Komposition des Gesamtzyklus war. Damals träumte ich – wahrscheinlich auch unbewußt auf den verfeinerten Ästhetizismus der postseriellen Klanggewebe reagierend – in des Wortes wahrer Bedeutung mehrmals von einer Musik, die nicht rund und zufrieden war in ihrer Vollkommenheit, sondern barbarisch, bedrückend, grausam; ich hatte immer wieder tiefe Blechbläserklänge im Ohr. Es war eine uferlose Musik …, sie geschah in Wellen; zwischen dem Verebben einer Welle und dem Losbrechen der nächsten gab es Pausen voll Beklemmung, voll Bangen und Erwartung. In Spiegel l habe ich ähnliches gestaltet. Der in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu diesem Stück entstandene „Ursatz“ der Exercises, den ich später in drei im Charakter divergierende Hauptabschnitte verwandelt habe, geht von verwandten Ausgangsvorstellungen aus, es gibt darin aber keine kontinuierliche Entwicklung. Immer wieder von Pausen unterbrochen, erscheint das Grundmaterial in verschiedenen Blöcken von Struktur- und Farbvarianten. Dies gilt auch für weitere Hauptabschnitte im Gesamtkomplex des Werks. Auf eine besondere Weise gilt es für jenen Satz, der als zweiter konzipiert wurde und eine Art von Antipoden zum „Ursatz“ darstellen sollte. Die Bewegungen werden hier in einem Maß komprimiert, das sie als Simultanschläge erscheinen läßt. Wie im Bereich der Natur vollzieht sich die Verformung nicht mit absoluter Gleichmäßigkeit: Es kommen ab und zu Töne zu früh, andere klingen nach. Die immer gleich langen und sehr lang wirkenden Pausen bleiben erhalten und der Satz rollt unerbittlich ab, – ins Zeit-Leere. Ich habe ihn später Versuch eines Requiems I genannt.
Von diesen beiden im Charakter sehr verschiedenen Ausformungen eines Grundmaterials her hat sich das Werk ausgebreitet. Exercises sind langsam entstanden. Wenn ich sage, daß die Sätze sich zunehmend um ein Zentrum zu ordnen begannen, so ist der Ausdruck „sich ordnen“ in Bezug auf das innere und äußere, organische Wachstum des Stücks nicht zufällig gewählt. Erfahrungen und Erkenntnisse aus den verschiedensten Bereichen kamen meinen Wünschen und Vorstellungen entgegen. Auf einer Partiturseite von 1966 sind einige Sätze von Norbert Wiener festgehalten, die sich auf das Wesen von Organisation im naturwissenschaftlich-biologischen Bereich beziehen. Ich habe im Zusammenhang mit Fasce schon auf die Bedeutung von Wieners Systemdenken für meine Arbeit hingewiesen. Nun vertiefte und verstärkte sich die Situation, weil ich – wie eingangs erwähnt – allmählich begann, die sehr puristische Welt meiner Klangkompositionen zu verlassen. Nach der Komposition und neben der Ausarbeitung meiner Spiegel hat es mich offenbar gereizt, auch Heterogenes zu erfinden oder zu akzeptieren und es dann funktionell in einen Organismus einzubinden.
In technischer Hinsicht wurde mein Stück immer mehr einem System vergleichbar, das aus verschieden strukturierten Untersystemen besteht. Ordnungen geraten da und dort in Widerspruch, Störungen treten auf. Das Problem, sie zu erzeugen, begann für mich eine immer größere Rolle zu spielen. Zwischen die Hauptabschnitte gelegte kurze Teile, die ich „Regresse“ nannte, haben eine derartige Funktion. Sie sind regressiv im Zurückfallen von höheren Organisationsebenen auf primitivere Gestaltungen des Grundmaterials, sie sind aber – traditionelle Formulierungen einbegreifend – meist noch stärker regressiv in stilistischer Hinsicht. Mit einem Schein von Unmittelbarkeit brechen sie in die weit puristischer geformten Blöcke der Hauptsätze ein. In den ersten drei Hauptabschnitten, die ich aus dem „Ursatz“ entwickelt habe, läßt sich besonders gut beobachten, wie die dazwischengelegten, gleichzeitig entstandenen „Regresse“ gleichsam deren Charakter wandeln, wodurch der Eindruck entsteht, daß die Störung – wie im biologischen Bereich – von ihrer Umgebung aufgesaugt wird. Ist eine Störung so groß, daß ihre Umgebung sie nicht mehr assimilieren kann, so übernimmt das Gesamtsystem eine Art Ausgleich, – schafft ein neues Gleichgewicht. Zur Zeit ihrer Erfindung schockierten die „Regresse“ mehr als Zitate und Zitatcollagen, die alles zum ästhetisch definierten Spiel machen, weil sie „Stil“ in verschiedenen Graden mißachteten und „Geschmack“ in dieser Hinsicht stärker verletzten. Im Gegensatz zur Collage, die Bruch und Verfremdung zu einem wesentlichen Erlebnisinhalt macht, kam es mir zwar auch darauf an, Brüche zu schaffen, aber ich war ebenso bestrebt, das Gebrochene organisch einzubinden: Bruch und Vermittlung haben mich also in gleichem Maß beschäftigt. Darüber hinaus galt mein Interesse insgesamt dem Einfluß verschiedener Arten von Strukturen aufeinander, der Wirkung extrem artikulierter Elemente auf ihre Umgebung, dem Ergebnis von Komplexierung auf einer Ebene des Geschehens bei gleichzeitiger Vereinfachung auf einer anderen etc.
Die Art, in der ich Stimme und Sprache zu integrieren begann, hat eine den „Regressen“ verwandte Wirkung. Das Ergebnis erweckt insgesamt den Eindruck von gesprochenen bis gesungenen Texten mit syntaktischem Zusammenhang und semantischer Bedeutung; in Wahrheit fehlt beides. Für die verwendete Kunstsprache wurden 57 Laute des phonetischen Alphabets ausgewählt, die den 57 im Stück vorkommenden Tonhöhen entsprechen und auf die auch sonst in der Komposition herrschende Verfahren angewendet wurden. Trotz derartiger Züge zur Anpassung und Einordnung und obwohl die Sprachteile in verschiedenen Graden nicht primär von Assoziationsbindungen ausgegangen sind bzw. deren direkter Umsetzung entzogen wurden, behielten sie den Charakter von Einbrüchen aus einer eindeutiger definierten Welt als es die instrumentalen Hauptteile waren. Das «Künstliche», logisch Bedeutungslose stellt zwar die Unmittelbarkeit, mit der Sprache hier auftritt, grundsätzlich in Frage, was aber bleibt, sind gleichsam intakte Sprachgesten und auch innerhalb mancher Teile durchgehaltene Sprachcharaktere. Das Verhältnis zu darin angedeuteten Assoziationsbereichen schwankt allerdings bzw. es wird bewußt in Schwebe gehalten. Neben Klangbildern für Trivial-Typisches, die z. B. in „Regressen“ eindeutige Reaktionen hervorrufen, stehen musiksprachliche Formulierungen, die – vertrauten Formen verwandt – Identifikation erheischen und doch nicht mehr durchwegs fraglos erlauben. Einander ähnliche Ausdrucksweisen, z. B. in den Rezitativen und Arien des Baritons, können vor allem dann im Verhältnis zur Szene Ausdrucksgehalte gewinnen, die von der Persiflage bis zur heimlichen Trauer über den Verlust des Glaubens an ordnende Bewältigung reichen mögen. Das Verhältnis der „Regresse“ und Sprachteile zu ihrer Umgebung, die Aufgabe, sie zu integrieren, hat mich nicht nur Verbindungen von musikalischen Vorstellungsbereichen außerhalb der gängigen Art gelehrt, sondern auch meinem allgemeinen Interesse an großformalen Beziehungen entsprochen. Aus einer – mir vielleicht eigenen – Mentalität, die Komplexes in adäquaten, übergreifenden Formen fassen möchte, erklärt sich wahrscheinlich auch die Art der Beziehungen zur Szene.
Von Anfang an hatten mich bei der Arbeit an Exercises bildhafte Vorstellungen begleitet; sie haben sich im Verlauf der Entstehung meines musikalischen «Kosmos» mit seinen verschiedenen Ebenen und Sprachniveaus verstärkt. Ich habe damals aber auch gleichzeitig filmische und theatralische Konzepte entwickelt, die von der Musik zunächst unabhängig zu sein schienen. Erst langsam fügte sich in der Arbeit vieles so organisch ineinander, daß ich einen Zusammenhang akzeptierte bzw. weitertrieb. Die beiden Ebenen Bild–Musik sind Aspekte von ähnlichen Grundvorgängen, die sich gleichsam auf zwei Ebenen der Sinneswahrnehmung vollziehen: Resultate aus der Überzeugung, daß alle Tendenzen unseres Tuns gemeinsame Wurzeln in unserer organischen Existenz haben. Aus ähnlichen Antrieben erwächst musikalisch wie szenisch mehrfach Verwandtes. In den letzten Teilen verstärken sich in gewandelter Form Reminiszenzen an den Anfang, die Pseudosymmetrien in der Musik begünstigen die Verbindung der Szene zu Bildern für Anfangs- und Endzeiten.
Es gab also schon zu Exercises ein ausführlich ausgearbeitetes Szenarium; es sei im hier gegebenen Zusammenhang mit seiner Endfassung in Netzwerk besprochen. – Ich habe 1987 eine revidierte Konzertfassung von Exercises hergestellt. Der Titel mag in Bezug auf alles Gesagte wundernehmen. Ich habe ihn am Anfang als Arbeitstitel gewählt und schätze es noch heute, ihn beizubehalten: Er betont den Werkstattcharakter. Musikalisch und szenisch haben mich Organisationsformen interessiert, die der Welt meiner Erfahrung entstammen. Exercises sind Übungen – ihr Ergebnis vor allem Erfahrung.
Friedrich Cerha