Streichquartett
UA: Evian · Mandelring-Quartett
Ich habe in meinem Leben als Geiger sehr viel Kammermusik gespielt und kenne die Literatur gut. Zwei Streichquartette und ein Streichtrio sind bei einem Generalreinmachen Anfang der Sechzigerjahre im Papierkorb gelandet. Die beiden Aufträge zu Streichquartetten (Internationale Stiftung Mozarteum 1989 und Rencontres musicales d'Evian 1990) waren mir im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, mich von sprachlich und stilistisch für mich unerschlossenen Bereichen anregen zu lassen, willkommen. Die Auseinandersetzung mit folkloristischem Material reicht weit zurück. War es in den Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahren die slawische Volksmusik, die mich beschäftigte (ich war immer ein großer Janácek-Bewunderer und kann die slowakischen Melodien aus meiner Kindheit nicht vergessen), so habe ich mich auf eine recht direkte Weise ?bezogen. Im 1. Streichquartett sind es Materialien und Techniken der arabischen, im 2. Streichquartett der papuanischen Musik, die die Sprache ?Werke mitbestimmen.
Das 2. Streichquartett ist im Sommer 1990 im Auftrag des Streichquartettwettbewerbs von Evian entstanden, wo es 1991 Pflichtstück für die Bewerber wurde. Den Preis für die beste Interpretation erhielt das Mandelring-Quartett aus Deutschland, das am 12. Mai die Uraufführung spielte. Das Stück liegt seiner Entstehung nach zwischen dem Phantasiestück für Cello und Orchester, mit dem es die Idee der Auflösung eines sich beschleunigenden melodischen Geflechts in ein Gewirr von Bewegungen gemeinsam hat, aus dessen Verlangsamung sich wieder allmählich Gestalten herauslösen, und der kürzlich in Berlin uraufgeführten 3. Langegger Nachtmusik, mit der es die Technik, die Glieder einer fast endlos scheinenden Kette melodischer Formeln ineinanderzuschieben, verbindet.
Ich erinnere mich, daß seit langem kein musikalisches Erlebnis für mich so stark war wie das Kennenlernen der Musik der papuanischen Völker am Sepik in Neuguinea. Die Vierteltonmusik der Tonleitern ihrer Flötenmusik ebenso wie die Rhythmen ihrer Schlitztrommeln sind nicht ohne Einfluß auf meine Musik geblieben. Ein großer Bogen wölbt sich vom Einklang des Anfangs und der zu engen Quinte bis zur Auflösung und schließlich Unmöglichkeit jeder melodischen Bewegung, jeder Tonhöhenveränderung an sich. Das Ergebnis endet im Zusammenfallen der Stimmen in die Gleichzeitigkeit und in der reinen Wiederholung.Ich habe zur Zeit der Komposition einen papuanischen Schädeltrophäenhaken erworben. Der uralte Mythos, Heil zu erlangen, Tod zu überwinden durch Menschenopfer (sublimiert noch im Christentum) hat mich sehr bewegt, und die lähmende, zeitlose Ausweglosigkeit in der Situation zu opfern oder Opfer zu sein, steht möglicherweise hinter dem Ausdruck dieses Schlusses.
Friedrich Cerha